100 Jahre "Der Prozess"

Was Kafkas »Der Prozess« mit KI und Behörden-Wirrwarr gemeinsam hat

Der einzelne Mensch - der Willkür ausgeliefert. Der moderne Mensch - verwirrt ob anhaltender Entfremdung. Der Mensch im digitalen Zeitalter - erdrückt von bürokratischen Entscheidungen, die kaum nachvollziehbar sind. All diese Interpretationen beziehen sich auf dasselbe Werk: Vor 100 Jahren wurde »Der Prozess« von Franz Kafka veröffentlicht - einer von drei unvollendeten Romanen des ikonischen Schriftstellers, der längst zum Klassiker geworden ist.

»Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet«: Mit diesem berühmten Satz beginnt »Der Prozess«. Die Hauptfigur weist Parallelen zum Autor auf - über das Initial des Nachnamens hinaus: Beide sind 30 Jahre alt, beide arbeiten als Prokurist und leben allein. Die kurz zuvor erfolgte Auflösung seiner Verlobung hatte Kafka als »Gerichtshof« empfunden, wie er in seinem Tagebuch schrieb. Nach dem Abbruch der monatelangen Arbeit am »Prozess« nahm er diese nie wieder auf.

Letzter Wille Kafkas missachtet

1883 in eine jüdische Familie in Prag geboren, galt Kafka lange Zeit galt er als Einzelgänger, der sich einsam und unverstanden fühlte. Er durchlebte mehrere schwere Depressionen - und das vorherrschende Bild von Kafka sagt wohl etwas darüber aus, wie verzerrt die Sicht auf Depressionen bis heute ist: Die Krankheit muss eben nicht mit permanenter Traurigkeit einhergehen. Als im vergangenen Jahr sein 100. Todestag groß begangen wurde, wiesen Wissenschaft und Popkultur darauf hin, dass es auch einen anderen, einen heiteren, ironischen, gar lebensfrohen Kafka gegeben hat.

Dass dessen Werk veröffentlicht wurde, ist der vielleicht bekanntesten Missachtung eines Letzten Willens in der Literaturgeschichte zu verdanken: Kafka hatte um Verbrennung seines schriftstellerischen Nachlasses gebeten, doch sein Freund und Wegbegleiter Max Brod setzte sich darüber hinweg. Knapp ein Jahr nach Kafkas Tod im Juni 1924 veröffentlichte Brod 1925 die erste von mehreren Ausgaben des Fragments »Der Proceß« - und verschaffte dem mit 40 Jahren Verstorbenen internationale Aufmerksamkeit.

Graue Instanzen entscheiden

Josef K. indes, die Hauptfigur des Romanfragments, versucht immer verzweifelter herauszufinden, was ihm überhaupt vorgeworfen wird, verstrickt sich mehr und mehr in bürokratische Absurditäten - und bleibt letztlich ohnmächtig. Das System wird auch für Leserinnen und Leser nicht nachvollziehbar, erscheint jedoch durch die sachliche Sprache um so unentrinnbarer.

Kein Wunder, dass sich zeitgenössische Künstler in der Auseinandersetzung mit dem Werk etwa der Frage stellen, was es bedeutet, wenn Künstliche Intelligenz immer mehr den Ton angibt. In anderen jüngsten Theater-Inszenierungen belagerten gruselige Clowns die Bühne oder prägte ein grau-eintöniges Bühnenbild die Vorstellung anonymer Instanzen, deren Entscheidungen so übergriffig wie empathielos erscheinen.

»Ein wahnsinniger Erzählgestus«

Kafka sympathisierte mit der ostjüdischen Kultur, in der es viele Mythen über Kläger und Angeklagte, über Prozesse, unverständliche Anklagen und Strafen gibt. Seine Bearbeitung des Stoffs wurde als Angsttraum interpretiert und als Analyse von Macht. Kafka-Biograf Rainer Stach sieht die Helden des Autors stets in undurchschaubare Situationen gestellt, in denen sie sich beobachtet und ihrer Intimsphäre beraubt fühlten. »Man lässt sie auflaufen, schickt sie von einer Instanz zur nächsten, und zuständig ist letztlich niemand.«

Lesen Sie auch

In jüngster Zeit betonen Literaturwissenschaftler auch die gemeinsame Arbeit von Autor und Lesepublikum am Text. So stellten sich folgende Fragen: »Wie geht Josef K. mit der Anklage um, die gegen ihn erhoben wird? Geht er sinnvoll damit um? Ist es richtig, dass er sich auflehnt, würden wir als Leser und Leserinnen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt genauso resignieren?«, fragte der Philologe Oliver Jahraus kürzlich im Bayerischen Rundfunk. Wie Josef K. versuche, seinen Prozess zu verstehen, so versuchten Leserinnen und Leser, das ganze Buch zu verstehen. Und wer sich darauf einlasse, werde auch noch in 100 Jahren merken: »Wow, was ist das eigentlich für ein wahnsinniger Erzählgestus.«

Rheinland-Pfalz

»Aus Beutebeständen« - NS-Raubgut in rheinland-pfälzischen Museen

Viele kleine Museen in Rheinland-Pfalz haben bisher nicht danach geforscht, ob NS-Raubgut in ihrem Besitz ist. In den Sammlungen von vier dieser mehr als 400 Museen sah eine Kunsthistorikerin nun genauer nach

von Norbert Demuth  06.06.2025

Medien

Deutschlands Oberlehrer

Wer will noch mal, wer hat noch nicht? In diesen Tagen scheint die Diffamierung Israels oberste Bürgerpflicht zu sein. Ein Kommentar

von Michael Thaidigsmann  06.06.2025 Aktualisiert

Interview

»Es findet ein Genozid statt« – »Israel muss sich wehren«

Henryk M. Broder und Hamed Abdel-Samad über ihre langjährige Freundschaft, was sie verbindet – und was sie nach dem 7. Oktober 2023 trennt

von Philipp Peyman Engel  06.06.2025 Aktualisiert

Berlin

Dokumentarfilm »Don’t Call It Heimweh« über Margot Friedländer

Die Dokumentation von Regisseur Thomas Halaczinsky zeigt Friedländers erste Reise aus New York nach Berlin im Jahre 2003. Es war ihre erste Fahrt in die Heimatstadt nach 60 Jahren

 05.06.2025

TV-Tipp

Das Schweigen hinter dem Schweinderl

»Robert Lembke - Wer bin ich« ist ein kluger Film über Verdrängung, Volksbildung und das Schweigen einer TV-Legende über die eigene Vergangenheit. Nur Günther Jauch stört ein wenig

von Steffen Grimberg  05.06.2025

Bildung

Mehr als nur zwei Stunden Reli

Jüdischer Religionsunterricht muss attraktiver werden und auch Kinder erreichen, die keine jüdische Schule besuchen. Was kann konkret getan werden?

von Uri R. Kaufmann  05.06.2025

Wissenschaft

Wie die Jerusalemer Erklärung Antisemitismus verharmlost

Kritiker der IHRA-Antisemitismusdefinition behaupten gerne, die konkurrierende Jerusalemer Erklärung sei klarer und kohärenter. Doch das Gegenteil ist der Fall

von Ingo Elbe, Sven Ellmers  05.06.2025

Dresden

»Tiefgang mit Witz«: Erste Lesung des Dresdner Stadtschreibers Alexander Estis

Der jüdische Autor schreibe heiter, ironisch, grotesk und überrasche mit originellen Beobachtungen, so die Stadtverwaltung

 04.06.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Tabellenfragen: Was hat die Jewro mit der Bundesliga gemeinsam?

von Katrin Richter  04.06.2025

OSZAR »