Dies ist Leeor Engländers Trauerrede für Margot Friedländer, gehalten bei ihrer Beerdigung am 15. Mai 2025 auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.
Liebe Margot,
mein halbes Leben lang hast du mich begleitet. Meine eigenen Großeltern waren nach der Schoa so früh verstorben, dass ich sie nicht mehr persönlich kennengelernt habe. Du hattest nie Enkelkinder. Wir beide hatten einander gefunden. Als ich dir 2005 zum ersten Mal begegnete, warst du noch nicht Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, keine Ehrenbürgerin von Berlin, keine Bestsellerautorin und schon gar nicht die bekannteste Zeitzeugin des Holocausts in Deutschland – eine moralische Instanz für Millionen von Menschen.
Nach deiner Emigration in die USA warst du Jahrzehnte lang die ruhige, bescheidene Ehefrau an der Seite deines Ehemannes »Eddie« - Adolf Friedländer. Über die Schrecken, die euch während der Nazidiktatur widerfahren waren, habt ihr nie miteinander gesprochen: »Wir hatten es ja gemeinsam erlebt. Wir verstanden einander ohne Worte«, sagtest du stets. Das nichtjüdische Amerika interessierte sich kaum für die Geschichten der Holocaust-Überlebenden.
Erst nach dem Tod deines Mannes begannst du, in einer Writing
Class an der berühmten jüdischen Kulturinstitution »92nd Street Y« deine Geschichte aufzuschreiben. Nächtelang saßt du an deinem Computer und hast dir all die schrecklichen Erinnerungen von der Seele geschrieben, die dir den Schlaf raubten: die Pogromnacht am 9. November, die Deportation deiner Mutter und deines geliebten Bruders Ralph, dein eigenes Untertauchen in Berlin, die Ankunft im Ghetto Theresienstadt, der Moment, als dort ein Transport mit Häftlingen aus Auschwitz eintraf: »Sie fielen einfach heraus oder wurden herausgestoßen: Menschen, die keine Menschen mehr waren. Viele waren schon tot, aber die Toten waren kaum von den Lebenden zu unterscheiden.«
Durch einen Zufall entstand aus deinen Erinnerungen dein erster Dokumentarfilm »Don’t Call it Heimweh«, der auf dem Jüdischen Filmfestival seine Deutschland Premiere feierte. Wenige Jahre später bist du im hohen Alter von 88 Jahren zurück nach Berlin in deine Geburtsstadt gezogen, in der man dich 60 Jahre zuvor noch ermorden wollte und deine Familie ausgerottet hatte.
Es begann dein – wie du es nanntest – drittes Leben: »Das erste im Holocaust, das zweite in New York, das dritte in Berlin.« Heute kennt fast jeder in Deutschland deine Geschichte. Dein Leitsatz »Seid Menschen!« hat Generationen erreicht. Doch alles, was wir heute von dir kennen, deine Popularität, deinen Einfluss, deine Mission – hat erst damals begonnen, und du musstest es dir in den vergangenen zwanzig Jahren mühsam und hart erarbeiten.
Denn was heute in Anbetracht deines immensen Erfolges kaum noch jemand erahnt, sind die vielen Hürden, die du überwinden musstest. Wie viel Anstrengung es dich gekostet hat, dich mit fast 90 Jahren auch in Deutschland gegen Desinteresse, Skepsis und Überdruss an der kollektiven Nazivergangenheit zu behaupten!
Deinen Film »Don’t Call It Heimweh« wollte die Berlinale nicht zeigen, und überregionale TV-Sender interessierten sich ebenfalls nicht dafür. Auch deine preisgekrönte Biografie »Versuche, dein Leben zu machen« war kein Selbstläufer. Verlage lehnten dein Manuskript zunächst ab – es gäbe bereits genug Holocaust-Biografien. Du selbst überzeugtest später die Lektoren.
Als man mit einer Co-Autorin aus deinem Werk einen »Non-Fiction-Roman« machen wollte, da sich das angeblich besser verkaufen ließe, hast du beharrlich jedes erfundene Detail aus dem Text gestrichen. Was entstand, war ein authentisches Zeugnis deiner Überlebensgeschichte. All das sind nur Beispiele für deine Stärke und die Widerstände, die du überwinden musstet - beharrlich, sanft mit Nachdruck. In nur zwei Jahrzehnten hast du ein ganzes Lebenswerk erschaffen.
Du warst und bist für mich das größte Vorbild dafür, dass man in jedem Alter, zu jeder Zeit, ganz gleich wie grauenvoll das Schicksal war, das einem widerfahren ist, noch einmal ganz von vorne, von neuen beginnen kann. Dein unbändiger Antrieb war, deine Geschichte zu erzählen. Deine Mission: »Ich rede für die Millionen Ermordeten, die nicht mehr für sich sprechen können.«
Und wie du gesprochen hast! Du hast unzählige Schulklassen, Universitäten und Veranstaltungen besucht, hast Lesungen gehalten und Fragen beantwortet. Du bist im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre Tausenden von Schülerinnen und Schülern begegnet, um ihnen deine Geschichte zu erzählen – damit sie Zeugen deines Schicksals werden.
Worüber sich viele nicht bewusst waren: Jede dieser Lesungen kostete dich immense Kraft. Jede einzelne Lesung – es waren Hunderte – wühlte in deinen Erinnerungen, riss tiefe Wunden wieder auf und ließ sämtliche Dämonen der Vergangenheit auferstehen. Immer wieder aufs Neue plagten dich Gedanken voller Verzweiflung: »Was wäre aus all den wunderbaren jungen Kindern und Menschen, die man ins Gas geschickt hatte, nur geworden? Mein Bruder Ralph er war doch so intelligent und so viel begabter als ich. Wie konnten Menschen anderen Menschen so etwas nur antun?«. Dies waren stets deine Worte.
Die Liste der offiziellen Ehrungen, mit denen du für dieses unermessliche Engagement ausgezeichnet wurdest, ist lang. Doch was dir am meisten bedeutete, waren die Dankesbriefe der Schülerinnen und Schüler. Jeden einzelnen hast du gelesen, um dich zu vergewissern, dass deine Botschaft angekommen war. Dass die Kraft, die du aufgebracht hattest, und der Schmerz, dem du dich erneut ausgesetzt hattest, nicht vergeblich gewesen sind. Diese Bestätigung erfüllte dich mit größter Freude und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Du warst optimistisch.
Am Ende deines langen Lebens jedoch wurdest du noch einmal bitter enttäuscht. Seit nach dem 7. Oktober 2023 in Deutschland der Judenhass wieder unverhohlen auf den Straßen zu Tage getreten ist, warst du entsetzt und resigniert. »So hatte es damals bei uns auch begonnen«, hast du nüchtern analysiert. Und wer konnte es besser beurteilen als du?
Auch das Erstarken antidemokratischer Strömungen machte dir große
Sorgen. Das Eintreten für Demokratie, Freiheit und Respekt rückte immer mehr in den Mittelpunkt deiner Mission. »Wir können nicht jeden lieben, aber respektieren.« Du warst nach außen hin immer positiv. Der helle, wache Blick in deinen stets strahlenden, großen, neugierigen Augen hat so vielen Menschen Hoffnung und Zuversicht vermittelt.
Es waren wohl genau diese Augen und dieser Blick, der dir schon im Berliner Untergrund während der Judenverfolgung das Leben gerettet hat. Doch was viele nicht kannten, war die Schattenseite deines langen Lebens: 80 Jahre lang – seit deiner Befreiung aus dem Konzentrationslager – lebtest du täglich mit der Hölle der Erinnerung. 80 Jahre lang Zweifel: Warum ausgerechnet ich? Warum habe ich überlebt und nicht die anderen? 80 Jahre lang Unverständnis über die Brutalität, mit der man deine Familie ausgelöscht hatte. 80 Jahre lang kein Entrinnen vor Albträumen, Verzweiflung und Trauer.
Es verging kein Besuch bei dir, kein Gespräch zwischen uns beiden, in dem du mir nicht in deiner sanften zurückhaltenden Art und Weise anvertraut hast, wie sehr dich die Dämonen der Vergangenheit bedrückten. Am 8. Mai 1945 wurde Theresienstadt befreit. Du hast noch vor einer Woche im Roten Rathaus erzählt, wie du erst Tage danach realisiert hast, dass du wirklich frei warst. Am 9. Mai 2025, genau einen Tag nach dem Jahrestag der Befreiung aus dem Konzentrationslager, wurdest du auch von den Qualen deiner Erinnerungen befreit.
Die Nazis und ihre Helfer hatten dir deine Jugend geraubt – die schönste Zeit deines Lebens – und alles, was danach hätte kommen sollen, zerstört. Nach der Schoa konnte nichts mehr so sein wie zuvor. Das Trauma des Erlebten ließ dich nie mehr los. Und trotzdem, du wolltest leben. Du liebtest die Oper, das Konzert, die Feste des Bundespräsidenten, den roten
Teppich, den Applaus und jede einzelne kleine private Einladung, die du erhalten hattest. Du wolltest sie alle wahrnehmen.
»Ich hatte doch die schönste Zeit meines Lebens verloren…«, und »… es ist so wichtig, dass ich es tue, für euch…«: Das sagtest du oft, wenn wir
beisammen saßen und ich dich gelegentlich bat, ein wenig kürzerzutreten, um deine Gesundheit zu schonen.
So monströs die Verbrechen der Nazis an dir, deiner Familie und Millionen europäischen Juden waren, so gigantisch war dein Wille zu leben, weiterzuleben. Es war dein inniger Wunsch, nachzuholen, was dir die
Nazis geraubt hatten – nachzuholen, was niemals mehr nachzuholen war.
Dein unbändiger Lebensdrang, der vielen so unbegreiflich war, war dein kaum erfüllbarer Versuch, die verlorene Lebenszeit wieder aufzuholen. Aber ich weiß von dir selbst: der Zuspruch, die Aufmerksamkeit, die Dankbarkeit von all jenen, die sich heute hier versammelt haben und da draußen zusehen, haben dir dabei geholfen.
Danke, Margot.